WO GEHÖREN WIR EIGENTLICH HIN? – Über Phänomenologie –

Ein Beitrag von Charlotte Schlotheuber, Tübingen

Ausdrucksmalen, was ist das eigentlich? Eine Form der Kunsttherapie? Ein Kunstkurs? Einfach freies Malen aus dem Bauch heraus? Geht das zusammen mit Coaching? Kann ich es mit dem Kunstunterricht verknüpfen? Darf man ein Thema stellen oder Musik dazu laufen lassen oder ist es dann kein Ausdrucksmalen mehr?

Immer wieder werden wir vor diese und ähnliche Fragen gestellt – von uns selber oder aber natürlich von außen; und wie schnell kommen wir ins Schleudern mit unseren Erklärungen, die niemals erfassen können, was wir Wunderbares erleben und anbieten können mit unserem Ansatz! Er lebt von der Selbst – Erfahrung. Wo wir uns letztlich „einordnen“, welche Identität wir nach außen hin präsentieren, wo wir Grenzen ziehen und sagen „das ist jetzt aber kein Ausdrucksmalen mehr wie wir es verstehen“, ist aber wichtig für unser Selbstbild und für unsere Wirkung in der Öffentlichkeit.

Ich meine, wir tun klug daran, unseren bisherigen Lebensweg, unsere berufliche Grundausbildung, unsere Vorerfahrungen als Basis voll mit einzubeziehen und das Ausdrucksmalen in der Verbindung damit zu einer ganz individuellen „Methode“ zu machen, allein das ist glaubwürdig. Zugleich ist es aber wichtig, klar zu haben, was uns u.a. bei aller Individualität und Unterschiedlichkeit miteinander verbindet: unsere Grundhaltung, jenes „trust the process“, das die Eigenheit, das ganz Spezifische unseres Ausdrucksmalens auf den Punkt bringt und uns von anderen Ansätzen definitiv unterscheidet.

Ich lasse da nicht locker, auch wenn ich weiß, dass manche von euch seufzen, wenn ich wieder mit dem Wort daher komme: ich erlebe es im gegebenen Fall immer neu hilfreich, das „schwierige Wort“ phänomenologisch (von altgriechisch phainómenon = Sichtbares, Erscheinung) zur Orientierung heranzuziehen, denn die Phänomenologie ist in den letzten Jahren zu einer handfesten Richtung geworden, der sich immer mehr Menschen anschließen, weil sie merken, dass es in unserer Welt des Umbruchs nicht mehr taugt, sich an festgefügte Meinungen, Glaubenssätze und starre methodische Ansätze zu halten, um die Welt zu verstehen und zu erklären. Es braucht eine Grundhaltung, die offen und doch klar ist, die einem Prozess mit open end folgen kann und dennoch nicht beliebig ist. Eine Haltung, die sich durch Achtung der Autonomie unserer eigenen Erfahrungen und die der Anderen auszeichnet, Respekt vor jedem Menschen und seinem Weg, Selbst-Verantwortlichkeit und neben der Freude an kindlicher Neugierde und Authentizität auch dem Wissen beugt, dass wir eigentlich wenig wissen, aber jeden Moment die Gelegenheit haben, mit dem Wunder des Lebens in Beziehung zu treten. All das umfasst der Begriff der Phänomenologie mit und ich möchte an dieser Stelle noch einmal kurz auf den Punkt bringen, was den phänomenologischen Blick auszeichnet, in der Hoffnung, dass es euch dienlich sein könnte:

Ein schwieriges Wort: phänomenologisch, was ist das eigentlich?

Der Begriff der Phänomenologie wurde im 18.Jahrhundert u.a. durch J.W.von Goethe bekannt, der sie als ‚Wissenschaft des Herzens‘ verstand und vertrat. Die Phänomenologie als wissenschaftliche Methode wurde von dem jüdischen Philosophen Edmund Husserl (1859 – 1938) begründet und gehört zu den bedeutendsten Richtungen der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Die Phänomenologie beschreibt eine Haltung der vorurteilsfreien Erforschung der Welt gegenüber und viele Künstler, Denker, auch Naturwissenschaftler und ganze Methoden zählen sich selbst zu den Phänomenologen. Martin Buber zählte sich dazu, der Embryologe J.v.d.Wal, die Körpertherapien Craniosacrale Behandlung und Shiatsu, die Ridhwanschule nach A.H.Almaas, die Gestalttherapie, Carl Rogers mit seinem klientenzentrierten Ansatz, die Arbeit am Tonfeld®, der Maler und Schriftsteller John Berger, der Jazz-Pianist Pablo Held… es sind viele, die sich damit identifizieren können und nicht anders können und wollen, als die Welt durch diese Brille wahrzunehmen und sich dementsprechend zu verhalten und Leben zu gestalten. Der phänomenologische Blick macht verletzlich und unvollkommen auf der einen Seite, er ist zugleich immer auf Augenhöhe, in Beziehung mit seinem Gegenüber und kann sich jeden Moment neu verändern. Er ruft dazu auf, sich nicht auf die „Krücke“ der Ego- Persönlichkeits-Strukturen zu verlassen, sondern vom Kern her wahrnehmen zu lernen und zur eigenen Wahrheit zu stehen. Er macht verbunden und frei zugleich.

Wesentliche Merkmale dieser Weise an die Dinge heranzugehen sind

  • die Aufnahme von Kontakt, von Verbindung im „here and now“, also ganz in die Präsenz zu gehen statt mit vorgefertigten Ideen, Hypothesen, Theorien, Meinungen, von außen gesetzten Zielen oder Programmen zu arbeiten.
  • Wichtig ist, was jeder Mensch am eigenen Leib spürt, in eben dem Moment erfährt, im ganz konkreten Tun.
  • Statt „über“ etwas zu reden / zu denken etc., gilt es, während des Tuns in der direkten Erfahrung zu bleiben.
  • Es gilt die unbedingte Liebe zur Wahrheit auf der Basis der Grundhaltung des Nicht-Bewertens. Der innere Richter muss draußen bleiben oder aber wird – ehe er sich versieht – selbst zum Gegenstand der Erforschung.
  • Angefragt ist immer die Bereitschaft zum Risiko, also zur Offenheit für neue Erfahrungen, die uns verunsichern und durchschütteln, aber auch ganz unvermittelt befreien können.
  • Er ist erlebnisorientiert, nicht ergebnisorientiert.
  • Ausgangspunkt, Motivation ist die eigene Sehnsucht. Der zu folgen statt sich mit vorgefertigten Meinungen abzugeben, zeichnet die Phänomenologen aus.

Nehmen wir diese Basis ernst, dann sind wir frei, damit auf unsere ganz eigene Weise das Ausdrucksmalen zu gestalten, zu erweitern, zu begrenzen, in bestehende Systeme zu integrieren, was auch immer uns persönlich sinnvoll und dienlich erscheint. Wir haben das uns allen bekannte Setting als Grundlage und es ist gut, sich das immer wieder vor Augen zu führen: da ist das speziell ausgestattete Malatelier mit seinen wenigen klaren Regeln: Respekt vor der Herangehensweise und dem Ausdruck jedes Einzelnen, keine Bewertungen / Interpretationen, keine Themenstellung, möglichst keine Einflüsse von außen. Ausdrucksmalen findet normalerweise in der Gruppe statt und diese bildet allein schon durch ihre wertschätzende Existenz ein bergendes und Halt-gebendes Gefäß für den individuellen Weg jedes Einzelnen. Die Malprozesse werden durch eine mit dem Prozess mitgehende, nicht manipulative Malleitung in Einzelarbeit am Bild begleitet. Darüber hinaus gibt es aber kein „richtig“ und „falsch“, sondern wir sind aufgerufen, in Resonanz mit unseren eigenen Impulsen, Vorstellungen und Möglichkeiten unsere Form des Ausdrucksmalens zu kreieren, das wir wirklich von Herzen und mit Freude anbieten und halten können.

Charlotte Schlotheuber

Auszug aus „AUSDRUCK 2/15“ – Newsletter des
Netzwerks Ausdrucksmalen nach Laurence Fotheringham e.V.
erschienen Dezember 2015

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Charlotte Schlotheuber (www.ausdrucksmalen-tuebingen.de)